Flucht- und Flüchtlingsforschung: Vernetzung und Transfer (FFVT)

Über 70 Millionen Menschen sind gegenwärtig weltweit auf der Flucht – 60 Prozent davon verbleiben als sogenannten ›Binnenvertriebene‹ im Herkunftsland und 40 Prozent flohen über Staatsgrenzen. Fluchtbewegungen betreffen vor allem Länder im globalen Süden: 84 Prozent aller registrierten Flüchtlinge und 99 Prozent aller Binnenvertriebenen lebten 2019 in Afrika, Asien oder Lateinamerika. Krieg, Gewaltherrschaft oder Bedrohung durch bewaffnete Gruppen, aber auch Umweltkatastrophen, Klimaveränderungen sowie Armut und Perspektivlosigkeit lassen sich als Fluchtbedingungen ausmachen. Deterministische Vorstellungen verbieten sich allerdings: Selbst ausgeprägte Gewalt oder ein weitreichender Wandel der Umweltverhältnisse in einem Raum führen nicht per se zu vermehrten Fluchtbewegungen, zahlreiche ökonomische, soziale, politische und kulturelle Faktoren sind vielmehr zu bedenken, wenn nach den Hintergründen von Fluchtbewegungen gefragt wird. Die wenigsten geflüchteten Menschen verfügen über einen sicheren Aufenthaltsstatus, in der Regel besteht eine anhaltende Situation der Ungewissheit: Zwei Drittel verbringen Jahre und Jahrzehnte in provisorischen Unterkünften mit beschränkten Zugänge zu Bildung und legaler Erwerbstätigkeit. Flucht betrifft Menschen unterschiedlichen sozialen Status auf sehr verschiedene Weise sowohl im Hinblick auf die Ursachen wie auch die Möglichkeiten einer Bewegung innerhalb ihres Herkunftslandes oder über dessen Grenzen hinweg. Auch haben Frauen meist geringere Bewegungsspielräume als Männer und sind anderen Gewaltformen ausgesetzt.

Flucht ist als ein Prozess zu sehen, der zu teils ausgeprägten gesellschaftlichen Veränderungen führt. „Der Flüchtling“ als „Grenzfigur der Moderne“ wird damit nicht zuletzt zu einer Herausforderung für Governance‐Strukturen, die auf der Souveränität von Nationalstaaten basieren. Es handelt sich hier eindeutig um ein Thema von herausragender wissenschaftlicher, aber auch gesellschaftlicher und politischer Relevanz, das eine interdisziplinäre Betrachtungsweise erfordert.

Flucht‐ und Flüchtlingsforschung setzt sich mit Hintergründen, Bedingungen, Formen, Infrastrukturen und Folgen sowie den rechtlichen Dimensionen, Schutzregimen, Schutzlücken und politischen Steuerungsmöglichkeiten von durch Gewalt, Konflikte, soziale Bedingungen und Umweltkatastrophen induzierten räumlichen Bewegungen auseinander. Während international spätestens seit den 1980er Jahren Fluchtforschung gezielt betrieben wird, hat die Wissenschaft in Deutschland globale Fluchtkontexte verstärkt erst mit dem deutlichen Anstieg der Zahl der Schutzsuchenden 2014/15 in den Blick genommen. Zunehmend bildeten sich hier in bereits etablierten akademischen Feldern (u.a. Migrationsforschung, Friedens‐ und Konfliktforschung) Ansätze einer Flucht‐ und Flüchtlingsforschung heraus, die innerhalb weniger Jahre beachtliche Erkenntnisse hervorbrachten. Allerdings zeichnet sich das Forschungsfeld durch eine geringe Vernetzung und das weitgehende Fehlen eines institutionellen Fundaments (u.a. Institute, Professuren, Studiengänge) aus. Daher vermochte es die Flucht‐ und Flüchtlingsforschung in Deutschland bislang nicht, ihr Potential als Forschungsfeld zu entfalten.

Das Verbundprojekt „Flucht‐ und Flüchtlingsforschung: Vernetzung und Transfer“ (FFVT) zielt auf die Stärkung einer interdisziplinären Flucht‐ und Flüchtlingsforschung in Deutschland. Dazu führt das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte Vorhaben die Forschung zu Migration, Entwicklung, Konflikten und Gewalt, Klimawandel, Gesundheit, Governance und Menschenrechten sowie weiteren Feldern zusammen. FFVT wird betrieben vom Bonn International Center for Conversion (BICC), vom Centre for Human Rights Erlangen Nürnberg (CHREN, Universität Erlangen Nürnberg), vom Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE, Bonn) und vom Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS, Universität Osnabrück). Übergeordnetes Ziel des Projekts ist es, die wissenschaftlichen Aktivitäten im Themenfeld miteinander zu vernetzen und auf diese Weise in Deutschland exzellente interdisziplinäre Flucht‐ und Flüchtlingsforschung mit internationaler Ausstrahlung zu etablieren. Die vier im FFVT‐Projekt zusammenarbeitenden Institute zielen darauf, in enger Kooperation mit weiteren Einrichtungen die in Deutschland vorhandenen wissenschaftlichen Aktivitäten deutlich enger miteinander zu verzahnen. Ziele der Vernetzungsaktivitäten sind a) neue Verbundforschungen auf den Weg zu bringen, b) attraktive Studienmöglichkeiten zu etablieren, c) internationale Sichtbarkeit zu erreichen sowie d) den Dialog zwischen Wissenschaft, Praxis, Medien und Politik voranzutreiben. Für die Etablierung einer nachhaltigen Forschungsinfrastruktur der Flucht‐ und Flüchtlingsforschung ist ein Zeitraum von mindestens zehn Jahren anzusetzen.

Das Vernetzungsprojekt basiert auf fünf eng verflochtenen Modulen:

  • Modul 1 – Vernetzung in den Forschungsfeldern: Zentrale Aufgaben sind die interdisziplinäre Vernetzung der Flucht‐ und Flüchtlingsforschung in Deutschland unter Einbeziehung aller relevanten Forschungsfelder und Akteure sowie die Förderung exzellenter Forschung und innovativer reflexiver Denkansätze.
  • Modul 2 – Lehre und Nachwuchsförderung: Da es in Deutschland bislang keinen Studiengang zur Flucht‐ und Flüchtlingsforschung gibt, sollen die Grundlagen für (translokale) Masterprogramme in der Flucht‐ und Flüchtlingsforschung entwickelt werden. Zusätzlich sind eine verstärkte Kooperation von Graduiertenprogrammen sowie ein Graduiertenkolleg geplant. Ziel ist es, Strukturen zu schaffen, die eine standortübergreifende Ausbildung von Studierenden und Promovierenden in koordinierten Programmen und eine internationale Vernetzung des wissenschaftlichen Nachwuchses ermöglichen.
  • Modul 3 – Internationalisierung: Die in Deutschland betriebene Forschung ist unzureichend an die internationale Flucht‐ und Flüchtlingsforschung angebunden. Das Projekt FFVT wird eine nachhaltige Vernetzung und erhöhte Sichtbarkeit deutscher Forschung in der internationalen Wissenschaftslandschaft ermöglichen. Dazu werden Kooperationen mit internationalen Forscher*innen angestoßen und mittelfristig tragfähige Partnerschaften mit strategisch relevanten Institutionen etabliert.
  • Modul 4 – Informationsinfrastruktur: Ein bedeutendes Element der Vernetzung ist der Aufbau eines Online‐Portals, über das Informationen zu Forschenden, zu Forschungsprojekten und Forschungsergebnissen, zu Transferaktivitäten sowie zu methodischen und theoretischen Perspektiven geteilt werden können. Eine Datenbank, die Informationen über Projekte und Forschende sammelt, bietet darüber hinaus die Möglichkeit, spezifische Entwicklungen des Forschungsfeldes zu analysieren.
  • Modul 5 – Wissenstransfer und Dialog: Die Flucht‐ und Flüchtlingsforschung beschäftigt sich mit einem Gegenstand herausragender außen‐, innen‐ und gesellschaftspolitischer Relevanz. Deshalb kommt dem Dialog mit und dem Wissenstransfer in Politik, Praxis und Öffentlichkeit eine zentrale Rolle zu. Das Projekt wird u.a. Dialog‐ und Transferbedarfe ermitteln sowie wissenschaftliche Erkenntnisse gezielt für Politik, Fachleute, Medien und Öffentlichkeit aufbereiten und an die jeweilige Zielgruppe vermitteln.

Die Vernetzungsaktivitäten werden intensive Kooperationen von Forschungseinrichtung, Wissenschaftler*innen und Förderern anstoßen, aus denen mittel‐ und langfristig institutionelle Strukturen, fest etablierte Foren und Plattformen des Austausches sowie Forschungsverbünde erwachsen. Diese sind die Voraussetzung für eine nachhaltige Etablierung der Flucht‐ und Flüchtlingsforschung in Deutschland.


Gefördert durch


FFVT

Projektkoordination

BICC

Internationales Konversionszentrum Bonn — Bonn International Center for Conversion

Pfarrer-Byns-Straße 1
53121 Bonn
Deutschland
Tel. +49 228 911 96 0

IMIS

Universität Osnabrück
Institut für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien (IMIS)

Neuer Graben 19/21, Gebäude 03
49074 Osnabrück
Deutschland
Tel. +49 541 969 4384

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