Der Erste Weltkrieg, die „Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts“, hatte große politische und gesellschaftliche Umwälzungen zur Folge, welche die Staatenlandschaft Europas auf das Nachhaltigste verändern sollten. Die sich nach dem Zerfall der alten Großreiche und Regime neu konstituierenden Staaten hatten von Beginn an mit Phasen der inneren Unruhen und Konflikten zu kämpfen. Vor diesem Hintergrund kam es in vielen Teilen Europas zur Bildung verschiedener paramilitärischer Verbände, welche zum Teil direkten Einfluss auf die Staatsbildungsprozesse hatten und sich durch ein großes Gewaltpotential auszeichneten.
In der Forschergruppe werden unter „Gewaltgemeinschaften“ soziale Gruppen und Netzwerke definiert, die sich durch ausgeübte oder angedrohte physische Gewalt stabilisieren. Das am Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung zwischen 2010 und 2015 bearbeitete Teilprojekt „Paramilitärische Verbände im Ostmitteleuropa der Zwischenkriegszeit“ stellt eines von insgesamt zehn Teilprojekten der Forschergruppe dar; die zeitlich zeitlich von der Antike bis zum 20. Jahrhundert und räumlich von West-, Süd-, Mittel- bis Osteuropa reichen und ausgewählte Regionen Afrikas umfassen. In den drei Teilvorhaben, die am Herder-Institut bearbeitet werden wird der Frage nachgegangen werden, welche Funktion Gewalt bzw. aktive Gewaltanwendung bei der Konstituierung und dem alltäglichen Handeln der drei Verbände spielten. In diesem Zusammenhang stellt gerade die vorherrschende Bedeutung der Gruppendynamik und deren Auswirkungen auf das Gewalthandeln ein Desiderat der Forschung dar. Diese Forschungslücke soll nicht zuletzt durch die Auswertung der im Herder-Institut zahlreich vorhandenen und bisher noch nicht analysierten Archivbestände geschlossen werden.
Im Sinne des Rahmenkonzepts der Forschergruppe werden in den Teilvorhaben die Binnenstruktur der einzelnen Verbände als Gewaltgemeinschaften analysiert werden. Hier steht das das dynamische Verhältnis zwischen Gruppenbild und Gewaltverhalten sowie zwischen der Regelhaftigkeit und der Exzessivität von Gewalt im Fokus, aber auch die Frage nach Ehrbegriffen der Akteure. Ist die Gewalt nur Ausdruck spontaner Gefühlsausbrüche, quasi von blinder Wut? Oder folgt sie rationalen Überlegungen und wird gezielt und nach bestimmten Regeln eingesetzt? In diesem Zusammenhang soll auch Aufschluss darüber gegeben werden. Das Gewalthandeln wird auch im Hinblick auf das Täter-Opfer-Verhältnis untersucht werden wie auch die Frage nach dem Ende bzw. dem Auflösen der verschiedenen Verbände als Gewaltgemeinschaften bzw. der Wiedereingliederung deren Mitglieder in die regulären strukturellen Systeme der zivilen Gesellschaft.