Die Ankunft von über einer Millionen Asylsuchender in Deutschland stellt seit 2015 nicht nur die Gesellschaft vor große Aufgaben, sondern auch den Journalismus. Welche Zusammenarbeit in der Berichterstattung über Flucht zwischen Wissenschaftler*innen und Journalist*innen möglich ist, wurde am 26. Januar 2018 im Rahmen eines eintägigen Workshops  des BMBF-geförderten Projektes „Flucht: Forschung und Transfer“ in München rege diskutiert.

Dr. Bernhard Goodwin (LMU München) begrüßt alle Teilnehmenden

Innerhalb des Workshops setzten sich angehende Journalist*innen des Masterstudiengangs Journalismus der LMU und der deutschen Journalistenschule mit den Möglichkeiten des Transfers und Austauschs zwischen Flucht- und Flüchtlingsforschung in Deutschland und den Medien auseinander. Wissenschaftler*innen und Journalist*innen verbinden die tägliche Arbeitsweise des Recherchierens, der Aufbereitung von Wissen und der Umgang mit den Informationen. Hierbei prägen sie die Wissensbildung und besitzen eine hohe Verantwortung für Ihren Beitrag zur gesellschaftlichen Aushandlung von Flucht.

Den Einstieg bildeten Vorträge aus der Flucht- und Flüchtlingsforschung am Vormittag. Anschließend an Impulsvorträge von Wissenschaftler*innen diskutierten die Teilnehmenden über die Bedeutung von Begrifflichkeiten im Diskurs über Flucht, vor allem über unterschiedliche Kategorien und Labels von Geflüchteten, Migrant*innen, Flüchtlingen oder Schutzsuchenden.

Dr. Olaf Kleist (IMIS) bei seinem Vortrag zu: Wer ist ein Flüchtling?

Das Potenzial historischer Einordnung von aktuellen Fluchtphänomenen und die Bedeutung der historischen Perspektive in der aktuellen Berichterstattung wurden betont. Inwiefern die in Europa ankommenden Geflüchteten in Bezug zu Fluchtbewegungen im globalen Süden gesehen werden können und müssen, war ein weiteres Thema.

Intensive Diskussion und Reflexion entfachte auch der anschließende Vortrag über unbewusste Narrative in der Berichterstattung über Flucht. Die Teilnehmer*innen plädierten für eine Vielfalt der Berichterstattung und für einen sensiblen Umgang mit wirkungsvollen Narrativen. Ziel sei es Narrative für Leser*innen / Hörer*innen transparent zu machen und ihre Wirksamkeit verständlich zu machen. Der Perspektive von Geflüchteten sei dafür Raum innerhalb der Berichterstattung einzuräumen. Dabei wurde immer wieder diskutiert, wie sich das Dilemma  der Diskrepanz zwischen der sozialen Wirklichkeit und der Medienwirklichkeit lösen lasse. Auch die Frage, wie mit Vorwürfen von „Lügenpresse“ oder „Willkommenspresse“ umzugehen sei, wurde aufgeworfen.

Nachmittags setzten sich die Teilnehmer*innen in Kleingruppen mit Berichterstattung von Flucht in Polittalks, der Bedeutung von Statistik und Daten sowie mit Quellen, Ressourcen und Recherchen in der Berichterstattung um Flucht auseinander.

Austausch in einer Kleingruppe zur Bedeutung von Daten und Statistik mit Dr. Linda Supik (WWU Münster)

Nicht nur die Herausforderung der Identifikation und Auswahl guter und valider Datenquellen, sondern auch deren sinnvoller und verantwortungsbewusster Einsatz wurde kritisch diskutiert. Im Zentrum der Debatte stand die Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Aussagekraft quantitativer Daten und die damit verbundene ganz zentrale Frage der Interpretation, auch in Bezug auf die Verwendung von Narrativen, Framings und statistischer Kategorien wie Nationalität, Ethnizität und Religion. In der Auseinandersetzung mit Polittalks im Fernsehen analysierten die Teilnehmer*innen zudem, inwiefern machtvolle Narrative dort wiederholt werden und inwiefern sie neue und notwendige Informationen lieferten. Caterina Lobenstein, Redakteurin der Wochenzeitung Die Zeit, beleuchtete mit einer Fragerunde für die angehenden Journalist*innen zudem praktische Herausforderungen bei Recherche und Berichterstattung über Flucht und Flüchtlinge aus den Erfahrungen der eigenen journalistischen Arbeit.

Die Frage, wo die Medien in der Berichterstattung über Flucht aktuell stehen und welchen Einfluss der „Lange Sommer der Migration 2015“ auf den Journalismus hatte, wurde abschließend in einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung mit Prof. Friederike Herrmann (KU Ingolstadt-Eichstätt), Caterina Lobenstein (Die ZEIT), Fatema Mian (Neue deutsche Medienmacher) und Henriette Löwisch (Deutsche Journalistenschule) erörtert. Hierbei forderten die anwesenden Journalistinnen, die Perspektive von Geflüchteten mehr zu berücksichtigen und sich der Frage zu widmen, was mit den Menschen passiert, die bereits in Deutschland sind. Sie sprachen sich für eine differenzierte Wahrnehmung und Darstellung der Menschen aus, die nicht auf die Fluchtgeschichte reduziert Weiterhin wurde die bereits begonnene wissenschaftliche Aufarbeitung des journalistischen Umgangs mit dem „Sommer des Willkommens“ angeregt und auf „lessons learned“ sowie die Notwendigkeit von Perspektivwechseln hingewiesen.

Öffentliche Podiumsdiskussion zur Berichterstattung über Flucht: Journalismus zwischen Willkommenskultur und Krise?

Podcast zur Podiumsdiskussion

 

Teilnehmende am Workshop:

Journalismus Masterstudierende der LMU München und der Deutschen Journalisten-schule, Marcel Berlinghoff, Fabio Ghelli, Simon Goebel, Bernhard Goodwin, Elke Grawert, Friederike Herrmann, Olaf Kleist, Caterina Lobenstein, Henriette Löwisch, Fatema Mian, Verena Schulze Palstring, Hannah Schimpl, Linda Supik

Zusammenfassung des Medienworkshops als PDF:

Zusammenfassung des Medienworkshops (PDF)